Mit Kanonen auf Elefanten schiessen
Der Umgang mit gehegten und gezähmten Wildtieren war zur Zeit der ersten stehenden und fahrenden Menagerien ein Lernprozess, der sein Lehrgeld forderte, zum Teil mit tragischen Ereignissen. Ein solches geschah am 28. Juni 1866 im freiburgischen Murten.
Der Marktflecken zählte damals knapp 2300 Einwohner – arbeitsame Kleinstädter und Handwerker. Viel Abwechslung gab es nicht, ausser hin und wieder fahrendes Volk wie Gaukler, Seiltänzer und Komödianten. Kein Wunder, dass die Artisten solch nomadisierender Truppen, unter ihnen auch die Arenen Nock und Knie, auf grosse Sympathie stiessen. Menagerien wurden noch keine mitgeführt, lediglich Tanzbären etwa oder ein gezähmter Wolf. Die bevorstehende Galavorstellung der amerikanischen Kunstreitergesellschaft Bell Rums Myers war daher eine Sensation.
Denn dieser Circus Bell & Myers führte neben vielen Pferden zwei asiatische Elefanten mit, einen stosszahnbewehrten Bullen und eine Kuh. Solche Riesentiere, die man bisher nur vom Hörensagen kannte, als Statussymbole gekrönter Häupter oder tragische Helden bei Hannibals Alpenquerung, sollten nun leibhaftig im Landstädtchen auftreten. Die Spannung stieg spürbar!
Elefantenbulle in Rage
Der Zirkustross-Einzug in Murten am 27. Juni 1866 war gesäumt von ungläubig staunendem Wochenmarktvolk. Die beiden Kolosse, die ihrem langjährigen Pfleger wie Schäfchen folgten, spritzten sich beim Rathausbrunnen den Strassenstaub vom Leib. Quartier bezogen wurde im Hotel Weisses Kreuz und in dessen geräumigen Stallungen.
Das einmalige, ausverkaufte Gastspiel beim Schützenhaus dauerte am 27. Juni von acht bis elf Uhr abends. Das Publikum bedachte die Kunststücke der grauen Riesen mit Staunen, herzhaftem Lachen und grossem Applaus. Die beiden Elefanten gehorchten ihrem Pfleger aufs Wort. Ein verschworenes Trio – so schien es! Beglückt gingen alle nach Hause, und die Sommernacht senkte sich über das Städtchen.
Doch dann, am nächsten Morgen – das grauenvolle Erwachen. Ein Augenzeuge, Schlosser Johann Frey, wurde bei Tagesanbruch durch einen Tumult aus dem Schlaf gerissen; das ganze Städtchen war in Aufruhr. Der Elefantenbulle hatte sich losgerissen, war total ausgerastet und trat alles kurz und klein, was ihm in den Weg kam. Es dauerte einige Zeit, bis es den Zirkusleuten gelang, das erregte Tier wieder in den Stall zurückzudrängen.
Erst jetzt wurde klar, was geschehen war: Der Elefantenbulle hatte seinen Pfleger, der ihn während 14 Jahren betreut hatte, getötet. Er hatte ihn mit seinem kräftigen Rüssel zweimal in die Luft gewuchtet, dann mit den Stosszähnen in den Boden gedrückt und schliesslich noch mit Fusstritten traktiert. Der Unglückliche starb nach einer qualvollen Stunde. Murten stand unter Schock und unverhofft vor einem schrecklichen Problem, das allen fremd und unheimlich war. Trotzdem musste unverzüglich gehandelt werden.

Mit Heuwagen verbarrikadiert
Aus heutiger Sicht wäre es billig, die Entscheidungsnöte der Murtner angesichts einer solch plötzlich auftretenden, völlig unkalkulierbaren Bedrohung retrospektiv zu belächeln oder gar zu kritisieren. Gemeinderat und Zirkusdirektor waren sich einig, dass das nicht mehr kontrollierbare Tier getötet werden musste – aber wie? Vergiften oder Erschiessen durch Scharfschützen wurde, weil zu unsicher bezüglich rascher Wirkung, verworfen. Man wollte auf sicher gehen und beorderte aus Freiburg eine 6-Pfünder-Artilleriekanone, die um 11 Uhr mittags eintraf. Der ortsansässige Artilleriehauptmann Daniel Stock übernahm das Kommando.
Die Rathausgasse wurde abgesperrt und – um den «Elefanten-Perimeter» einzugrenzen – mit beladenen Heuwagen verbarrikadiert. Wegen der zu erwartenden Druckwelle mussten alle Häuser die Fenster öffnen. Auch die Feuerwehr war vorsorglich aufgeboten. Kinder wurden im Schulhaus «consigniert». Vor der Stalltür wurde Lockfutter deponiert, bevor sie geöffnet wurde. Vorsichtig näherte sich der Bulle dem Futter, zog sich aber gleich wieder zurück. Erst beim zweiten Heraustreten blieb er einen kurzen Moment mit der Breitseite zur Kanone stehen.
Traurige Elefantenkuh

Der Hauptmann gab «Feuer frei», ein Donnerblitz liess das Städtchen erzittern, der graue Riese kippte an Ort zur Seite und blieb regungslos liegen, während das Blut aus dem Einschussloch quoll. Die etwas mehr als faustgrosse Kugel, die – beim Schulterblatt eintretend – den massigen Körper voll durchschlagen hatte, ruinierte auch noch die Treppe des Gasthofs Adler, bevor sie als Querschläger in einem Heuwagen stecken blieb. Vorsorglich postierte Scharfschützen gaben – überflüssigerweise – noch eine Stutzersalve obendrein. Die Gefahr war gebannt; doch jetzt warteten andere Aufgaben.
Kurz nach Mittag führte der Gehilfe des verstorbenen Pflegers das weibliche Tier gen Freiburg. Mehrmals blieb die Elefantenkuh stehen und hielt vergeblich Ausschau nach ihrem langjährigen Kumpan. Unter grosser Anteilnahme der Bevölkerung wurde nachmittags der getötete Elefantenpfleger, ein Engländer namens Moffet, beerdigt. Seine Frau legte ihm zwei Münzen auf die Augenlider, als Tribut an den Totengott. Der Murtner Männerchor sang ihm ein ergreifendes Grablied, und aus Mitleid für die Witwe und deren Kleinkind gab es eine stattliche Kollekte.
Erst am Folgetag, dem 29. Juni, wurde der Elefant, nachdem er (zwar mit Stroh abgedeckt) an der Sonne gelegen hatte, an Ort von den Metzgern Riesenmey und Fasnacht abgehäutet und zerlegt und das Fleisch zu 20 Cent das Pfund restlos an die Bevölkerung ausgewogen. Abgesehen vom Zeitverzug, entsprach diese «Hausschlachtung» nicht ganz heutigen Hygienevorschriften, weil das Tier auch ungenügend ausgeblutet war. Kein Wunder, gelang das exotische Gulasch den Murtner Hausfrauen unterschiedlich gut. Aber gerühmt wurde es allenthalben.
Dass in der damaligen Zeit ein solch plötzlich anfallender Fleischberg bis zum letzten Kilo verwertet statt vernichtet wurde, ist nachvollziehbar, wobei wohl auch der exotische Faktor mitspielte. Die aktuelle Gesetzgebung würde dies nicht mehr erlauben, auch nicht die Befindlichkeit der heutigen Gesellschaft. Zwar kommen auch im modernen Zoo und Zirkus gelegentlich Tiere zu Tode. Sie enden meist in der Kadaververwertungsanstalt, weil allein schon das Verfüttern an fleischfressende Zootiere zu einem Aufschrei führen würde. Dass die Raubtiere, die von Natur aus auf Fleisch angewiesen sind, im Zoo dann halt Nutztierfleisch verzehren, scheint nicht zu stören.
Der Tod des grauen Riesen war zugleich der Anfang einer neuen Herausforderung. Nachdem die unberechenbare Gefahr gebannt und der Koloss verspeist war, standen das Mitleid mit dem «hingerichteten» Elefanten, die Verehrung seiner kraftvollen Gestalt und das naturkundliche Interesse im Fokus. Die ausgestopfte Hülle und das montierte Skelett sollten, so waren sich Behörden und Bevölkerung einig, der Nachwelt erhalten bleiben.

Ausgestopft und entsorgt
Doch weil der von Präparator Daniel Zahnd «rekonstruierte» Elefantenbulle zu gross war für das Murtner Naturalienkabinett und ein geplanter Ausstellungspavillon im Schweizerhausstil zu teuer geworden wäre, landete er schliesslich doch im Naturhistorischen Museum Bern. In den 1930er-Jahren jedoch, beim Umzug des Museums in den Neubau an der Bernastrasse, wurde das Murten-Elefant-Präparat still und leise entsorgt.
Anders erging es dem Skelett, das seinerzeit direkt ins Institut für Anatomie der Universität Bern gelangt war, dort aber ein Dornröschendasein fristete. Deshalb wurde es später auch ins Naturhistorische Museum geholt, wo es seit 2001 ausgestellt ist und vor paar Jahren sogar einen neuen Ehrenplatz erhielt. An solch eine Odyssee des Murtner Elefantenbullen hätte 1866 wohl niemand zu denken gewagt.
Bulle mit Testosteronschub
Vor dem Ereignis 1866 in Murten waren auch schon in London, Venedig und Genf ausgerastete Elefanten mit Kanonen erschossen worden, weil damals nicht bekannt war, dass Bullen ab dem 15. Lebensjahr in die Musth kommen. Weil man dafür noch keine Erklärung hatte, schützte man sich, indem man beim Bullen die Stosszahnspitzen absägte und die Enden mit einer Metallbrücke verband (auf dem Bild des toten Elefanten sichtbar). Denn dieser Bulle soll bereits vorher auf seiner Fussreise einen Wagen umgestürzt und ein Pferd getötet haben.
Im Museum Murten erinnert heute noch die ominöse Kanonenkugel an die elefantöse Episode.
Fakt aber bleibt: Behörden und die Bevölkerung von Murten haben 1866 ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel über sie hereingebrochenes, aus damaligem Wissensstand nicht einzuschätzendes Unheil in kühler Vernunft bestmöglich bewältigt.
Weitere Versionen dieser tragischer Elefantengeschichte:
Aus der NZZ vom 29.06.2020: Elefant-von-murten
Die-Schweizer-Armee-auf-Elefantenjagd
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